Bettina Brüggemann
           

                                                 Der Weg zu meiner Theseusinterpretation

                            

Nachdem ich mich ausführlich mit der germanischen und der keltischen Mythologie beschäftigt hatte, wollte ich es einmal mit der griechischen tun.
Bisher hatte ich es nicht getan, weil ich die griechische Mythologie nicht besonders mochte.
Dieses ewige beständig "sich die Köpfe einschlagen", dazu noch aus zum Teil nichtigen Motiven, widerstrebte mir.
Ich wählte die schnörkellose, sprachlich eher spröde Theseuserzählung von Gustav Schwab, aus seinem Standardwerk:
Die schönsten Sagen des klassischen Altertums.
Nach dem ersten Lesen der Sage machte sich meine Phantasie auf den Weg, ging hierhin, ging dorthin, tappte aber erst einmal vornehmlich eher ratlos im Dunkeln.
Der Stoff wollte sich mir nicht erschließen.
Rückblickend weiß ich, warum.
Die Theseussage ist eine Sage ohne Aussage.
Das ist kein Wortspiel. Was ich damit ausdrücken will, ist, daß dieTheseussage als mythischer Stoff daherkommt, ohne eine mythische Aussage zu haben.
So wie Schwab die Sage erzählt, hat man nicht das Gefühl, daß es ein Geheimnis zu enträtseln gibt, oder, ginge der Blick tiefer, man Ungeahntes erfahren würde über die menschliche Existenz.
Darum aber geht es in den Mythen.
Meine Auseinandersetzung mit diesen Stoffen hat dazu geführt, daß ich Achtung entwickelt habe vor den Mythen.
Mein Nachdenken über die Mythen hat aber auch dazu geführt, daß ich gesehen habe, daß sie immer einer inneren Logik folgen. Mag diese Logik auch auf unwahrscheinlichen Geschehnissen aufbauen, mag sie versteckt sein und verlangen, daß man sie erst enträtselt, da die mythische Sprache bevorzugt in Symbolen spricht. Symbolen, die erst gedeutet werden müssen.
Mag diese Logik sein wie sie will, aber die Geschichten sind in sich immer schlüssig.
Diese Schlüssigkeit fehlt der Theseussage.
Gegen jede Hellenismusseligkeit behaupte ich sogar, daß sie in sich völlig abstrus ist. Man könnte jetzt dagegenhalten, daß die eigentlichen Mythen in den Göttersagen zu suchen sind, und nicht in den Heldensagen, aber die hellenischen Göttersagen sind genauso abstrus.
Sie leiden an einem Fehler, an den über Jahrhunderte geformte nicht deformierte Mythen nicht zu leiden pflegen: nämlich die eklatante psychologische Fehleinschätzung mancher ihrer Figuren.
Damit einher geht die Tatsache, daß die Theseussage zwar noch in der mythischen Sprache der Symbole spricht, die Symbole aber nur noch mehr oder minder leere Hülsen sind.
Es steht zwar noch Symbol drauf, aber es ist kein Symbol mehr drin.

Nehmen wir eine der ersten Szenen, in der der jugendliche Theseus nach Athen zieht, um seinen Vater, den König von Athen, kennenzulernen und dort auf Medea trifft. Schwab nennt sie ausdrücklich, die Zauberin mit dem Drachenwagen.Und eine Zauberin muß sie wohl sein, wenn sie Herrin über solche Fabelwesen ist.
Diese Medea fürchtet daraufhin, ihren Einfluß auf Theseus Vater zu verlieren, und versucht ihn deswegen, mittels eines Giftanschlages umzubringen.
Himmel!, dachte ich, was ist denn das für eine Zauberin!
Hat so etwas Profanes wie Gift nötig, um zu töten. Das kann jeder von uns, dazu muß man nicht zaubern können.
Ist es doch gerade dieser Grusel am Wesen des Zauberers, daß er nur einen Wink braucht, um einem übergangslos zu verwandeln, zu verzaubern, in was er immer will.
Ist es doch gerade das Furchterregende am Wesen der Zauberer, daß man den einen Satz noch menschlich spricht, und den nächsten quakt man, weil man nun ein Frosch ist. Zauberer lieben ja, Dinge zu verwandeln.
Als Frosch sind Sie so gut wie tot.
Als Frosch sind Sie aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen und da ist es möglicherweise nicht einmal mehr zu Ihrem Nutzen, wenn sie noch menschlich reden können.
Als Schwein, als Baum, als Stein gehört man nicht mehr dazu.
Man ist zwar noch Mensch, aber in einen Körper gebannt, der einem der Möglichkeit einer menschlichen Existenz beraubt hat.
Eine sehr subtile Art zu töten.
Insoweit erstaunt es nicht, daß der Zauberer bevorzugt waffenlos geht. Er bedarf der menschlichen Waffen, des Giftes, des Schwertes, eben gerade nicht und benutzt sie auch nicht. Seine Waffen sind immer übernatürlicher Natur und zeigen ihn als Vertreter einer Weltvorstellung, für die naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Gesetze keinen Bestand haben.

In diesen Aspekten ist die Theseussage mythisch gesehen völlig verflacht.
Sie führt zwar den Begriff Zauberer ein, aber sie löst ihn nicht ein.
Man mag das Haarspalterei nennen, aber wenn der Begriff Zauberer fällt, ist in den Mythen nichts beliebiges, sondern etwas sehr konkretes gemeint.

Bei Medea steht Zauberin drauf, es ist aber keine Zauberin drin.
Abgesehen von ihrem Drachenwagen, verfügt sie über keinerlei übermenschliche Mächte und ist in ihren Belangen so hilflos wie ein Nichtzauberer.
Warum wird sie dann aber überhaupt noch eine Zauberin genannt?
Nach ihrem mißglückten Giftmord verläßt Medea mit jenem Drachenwagen Athen.

Es ist übrigens ein psychologisch nicht uninteressanter Aspekt in der Erzählung Schwabs, daß die Frauen alle innerhalb kürzester Zeit nicht mehr da sind.
Medea ist nicht mehr da. Ariadne läßt er sofort auf einer Insel zurück.
Hippolyte stirbt und ist nicht mehr da. Phaidra erhängt sich und ist nicht mehr da.
Und Persephone ist nicht da, weil sie erst gar nicht da sein wird.


Die nächste Geschichte, die reichlich seltsam daherkommt, ist die Erzählung vom Raub der Amazone Hippolyte.
Zusammengefaßt erzählt sie Schwab etwa so:
In jungen Jahren besucht Theseus die Amazonen und genießt ihre Gastfreundschaft. Die schöne Amazone Hippolyte gefällt ihm so sehr,daß er sie auf sein Schiff lädt und entführt. Sie folgt ihm nicht ungern und wird gern seine Gemahlin. Zu Theseus Erstaunen erscheint plötzlich Jahre später ein Amazonenheer vor Athen.
Im darauf entbrennenden Kampf, scheinen sie die Überlegenen zu sein.
Hippolyte kämpft dabei an der Seite ihres Gemahls gegen das Weiberheer, so sehr liebt sie ihn und stirbt im Kampfgetümmel.

Schon ungewöhnlich die ganze Geschichte, vor allem, wenn man sich zurückruft, wer diese Amazonen waren, diese gefürchteten, stolzen und starken Kriegerinnen, bei denen der Mann nicht sonderlich viel galt.
Dieser konsequent gelebte Gegenentwurf zur " klassischen Frauenrolle".
Im Trojanischen Krieg endet das Aufeinanderprallen dieser gegensätzlichen Prinzipien, Amazone- hellenischer Krieger, absolut tödlich und das, obwohl Liebe im Spiel ist.
Bei Theseus hingegen passiert gar nichts. Schon bemerkenswert.
Er scheint über die Fähigkeit verfügt zu haben, die Lebenseinstellung dieser Amazone augenblicklich um 180 Grad zu wenden. Obwohl ich schon meine Schwierigkeiten habe, mir vorzustellen, wie diese Kriegerin, die ihr Schnitzel wahrscheinlich mit dem Schwert schneidet, statt mit dem Messer, mir nichts, dir nichts, zur zärtlich sorgenden Gattin wird.
Und dann erscheinen plötzlich die Amazonen vor Athen.
Theseus wundert sich, und ich wundere mich auch.
Warum tun sie das?
Einen Grund gibt es allerdings, bei dem Theseus sehr wohl damit rechnen muß, daß die Amazonen vor Athen erscheinen: Wenn Hippolyte nicht irgendeine Amazone ist, sondern die Amazonenkönigin selbst.
In diesem Fall macht der Amazonenfeldzug einen Sinn. Sie ziehen vor Athen, um ihre Königin zu befreien.
Ob nun die Gehirnwäsche derart gut gelang, daß die Amazonenkönigin Hippolyte gegen ihr eigenes Volk kämpft und dabei starb oder ob sie befreit zu den ihrigen zurückkehrt, läuft letztenendes auf das Selbe hinaus. Sie ist am Ende nicht mehr da.
Auch hier wird  wieder eine Parallele zu Medea deutlich, in dem Sinne, daß Hippolyte eine Amazone genannt wird, ihre Verhalten aber nicht mehr das Verhalten einer Amazone ist. Sie paßt viel mehr in das Fach "klassische Frauenrolle".

Diese Gedanken machten für mich den Stoff immer verworrener.
Irgendwie mußte sich doch dieses Knäuel entwirren lassen.
Zumal mir langsam der Verdacht kam, daß bei der Theseussage, ein neuer Stoff auf einen älteren gelegt worden war.
Zur Hälfte schaute der alte noch durch, zur anderen der neue, ohne daß sie so recht zuammenkommen wollten.

Da fiel mein Blick auf den Ariadnefaden und meine Assoziationen begannen sich zu verselbständigen:

Der Faden. Der Schicksalsfaden. Der Lebensfaden.
Die ineinander verwobenen Fäden.
Das zerrissene Gespinst. Das heile Gespinst.
Vor meinen Augen entstanden plötzlich Geschichten mythischer Weberinnen:
Die Walküren an blutigen Webstühlen sitzend, düstere Weisen singend, bestimmen sie webend den Ausgang der Schlacht.  
Die Nornen, die die Seile weben, schicksalsbestimmend für das Leben, da nichts mehr tilgbar ist aus dem Leben, was von ihnen hineingewoben wird.
Dornröschen und die grau verhüllte Frau am Webstuhl.
Die Spindel als Todeszeichen.
Der plötzlich zerreißende Faden als Symbol des Todes.
Aber auch, der in der Zeit immer neu entstehende Faden als Metapher für das Leben.
Mir begann etwas zu dämmern.

Meine Beschäftigung mit den Mythen hatte mich immer weiter in der Zeit zurückgehen lassen, bis sie auch bei den einstigen großen Göttinnen ankam, deren Macht später immer mehr verblaßt.
Sie sind immer Weberinnen, diese Göttinnen, immer haben sie etwas mit diesen Fäden zu tun.
Und immer besitzen sie die Symbole des Lebens und des Todes, den entstehenden Faden und den zerreißenden Faden, den Apfel des Lebens und den Apfel des Todes. Und weil sie Herrinnen über Leben und Tod sind, deswegen wohl nannte man sie einst Schicksalsgöttinnen.
Das Wollknäuel in Ariadnes Hand, dieser rote Faden sagt alles über sie. Sie war einst eine dieser Göttinnen.

Ariadne ist also eine ehemalige Göttin, Persephone ist es noch. Was aber ist mit Hippolyte und Medea?
Medea ist eine. Die Drachen! Sie sind Unterweltssymbole, womit Medea der Persephone verwandt wäre.
Und Hippolyte die Amazonenkönigin? Hat sie nicht Züge der Athene?
Ich hatte einen Weg gefunden, wie ich die Theseussage interpretieren wollte.
Ich würde Theseus all diese Göttinnen, diese Zauberinnen, in meinem Zyklus wieder treffen lassen, aber in der Fülle ihrer einstigen Macht.


Das Wesen der alten Göttinnen war dreigestaltig, entweder in sich vereint oder getrennt.
Der weiße Aspekt ist der Kriegerische, der rote der Gebende und Beschützende, der schwarze aber gehört der Göttin des Todes und der Weisheit.
Da sie Mondgöttinen waren, waren ihre Kronen symbolische Darstellungen des Mondes, mit der Mondscheibe in der Mitte, umrahmt von der abnehmenden und zunehmenden Sichel des Mondes.
Ich würde ihnen ihre alten Kronen wieder aufsetzen.
Theseus hätte sie daran erkennen können.

Aber wenn es etwas Tragisches gibt an der Figur Theseus, dann, daß er aus diesen ungewöhnlichen Begegnungen nichts für sich gezogen hat. Aber wahrscheinlich hatte er dafür eine Menge Spaß und nur ich finde diesen banalen Dummkopf tragisch.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 




 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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